Auch hier möchte ich, wie in meinem Blog, einen Text in Ausschnitten zitieren, der mich sehr beeindruckt hat und über den ich mir viele Gedanken gemacht habe. Er ist von Normen Mrozinski, der Titel des Artikels ist der Titel dieses Threads und erschienen ist er in der SitzPlatzFuss 08/2012. Normen war so nett und hat im Blog in den Kommentaren noch
den Link zu dem kompletten Artikel hinterlassen.
Normen schreibt dort folgendes:
"Wenn man im Internet, in Zeitschriften und Büchern über die Erziehung von Hütehunden recherchiert, findet man immer wieder den Hinweis, dass diese Tiere unbedingt ausgelastet werden müssen, weil sie ansonsten Neurosen, Verhaltensstörungen usw. entwickeln würden.
(…) Vor lauter ‘Auslastungsanspruch’ bleibt jedoch unerwähnt, dass mit der vermeintlich hohen Notwendigkeit der Beschäftigung auch gewisse Gefahren für den noch jungen Hund verbunden sein können, wenn diese nicht verantwortungsvoll und dem Entwicklungsstand des Hundes entsprechend stattfindet.
(…)
Dabei spricht an sich überhaupt nichts dagegen, auch den Junghund zu beschäftigen. Ganz im Gegenteil, es ist sogar zu empfehlen, das Tier zu fördern – und zwar in den Bereichen, in denen es nicht so talentiert ist.
Schnell ist ein Hütehund aufgrund seiner Disposition, aber wie sieht es mit Konzentration aus? Mit Ruhehalten oder feinmotorischen Fähigkeiten?
Ein befreundeter Hundetrainer nannte es so: ‘Wenn dein Kind gut in Mathe und schlecht in Geschichte ist, dann fängst du ja auch nicht an, mit ihm Mathematik zu üben.”
Ähnlich verhält es sich bei den Hunden.
Es stellt sich also die Frage, welche Beschäftigung für einen solchen Hundetyp geeignet ist. Es gibt bestimmte Hundetypen, die von ihrer Disposition her dazu neigen, stark auf bestimmte Angebote wie Bewegungsreize zu reagieren und dann ein übersteigertes Beutefangverhalten bis hin zu einer wahren Sucht mit all ihren körperlichen und geistigen Auswirkungen zu entwickeln. Hierzu würde ich neben den Hütehunden z. B. auch bestimmte Terriertypen zählen.
Voraussetzung für bewegungsintensive Beschäftigung wie Agility sollte also sein, dass das Tier die nötige Reife hat und in der Lage ist, Bewegungsreizen auch zu widerstehen. Der Schäfer nimmt seinen Junghund mit an die Herde und bindet ihn am Feldrand an. Während er mit seinen Hunden und den Schafen arbeitet, lernt der junge Hund, Frustration zu ertragen und nicht jedem Reiz hinterherzujagen. Erst wenn er diese Eigenschaft sicher besitzt, darf er – zunächst angeleint – auch an die Schafe.
Bei der Erziehung und dem Zusammenleben mit ihrem Hund haben jedoch viele Menschen in allererster Linie die Bedürfnisse des Tieres vor Augen.
Verschiebt man den Fokus vom Hund hin zum Hirten und macht sich bewusst, welche Ansprüche der Schäfer an seinen Hund hat, dann kommt man schnell zu dem Schluss, dass dieser einen Helfer benötigt, der in der Lage ist, Ruhe zu halten, auf Kommando jedoch hellwach ist.
Ein Schäfer kann keinen Hund gebrauchen, der durch ständige Bewegung die Schafe am Fressen hindert, jedem Kaninchen hinterherjagen muss oder jeden Wanderer belästigt, der an der Herde vorbeikommt.
Aus diesem Grund wird mit dem jungen Hütehund im ersten Lebensjahr oft konsequent nichts getan, außer dass er dem Hirten und den anderen Hunden bei der Arbeit zusehen darf und gut behandelt wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Hund in dieser Zeit nichts lernen würde – ganz im Gegenteil: Der Hund lernt, gelassen auf Außenreize zu reagieren und diese zu differenzieren – eine unendlich wichtige Voraussetzung für einen guten Arbeitshund.
Häufig sieht man gerade bei Hundesportturnieren völlig aufgedrehte kläffende Hunde, die deutliche Stressmerkmale wie starkes Hecheln usw. zeigen. Diese Verhaltensweisen werden von den Besitzern dann gern als ‘Vorfreude’ interpretiert.
Tatsächlich ist diese Aufgedrehtheit nicht selten das Ergebnis einer viel zu frühen Fixierung auf Bewegungsreize, ohne dass der Hund die notwendige Souveränität und Reife hatte.
So gibt es einige Sachbücher im Bereich Agility, in denen den Haltern empfohlen wird, bereits mit acht Wochenunter Zuhilfenahme von Reizangeln, Bällen und andren Wurfgegenständen den ‘Spieltrieb’ der Hunde zu fördern. Was tatsächlich geschieht, ist das gezielte Training des Beutefangverhaltens – mit dem Ergebnis, dass die Hunde unter Umständen irgendwann auf jede Bewegung reagieren, egal ob vorbeifahrendes Auto, Radfahrer oder rennendes Kind. Häufig mit dramatischen Folgen für die Umwelt oder den Hund. So ist es nicht erstaunlich, dass ich persönlich keinen Schäfer kenne, der Probleme mit dem Jagdverhalten seiner Hunde hätte, gleichzeitig genau dieses Problem den Großteil der Hütehundehalter in unsere Hundeschule treibt.
Ein Hund, der dergestalt auf Bewegungsreize fokussiert wurde, zeigt im Lauf der Zeit häufig sehr nervöses Verhalten, das von einer inneren Unruhe und der Unfähigkeit zur Entspannung geprägt ist.
Häufig erleben wir Abgabehunde, die – sobald sie zur Ruhe gefunden haben – völlig erschöpft tagelang durchschlafen.
Stellt man einen solchen Hund vor eine ihm unbekannte Aufgabe, lässt sich nicht selten beobachten, dass er alle ihm bekannten Tricks abspult und schließlich – mangels Erfolg – in hysterisches Kläffen verfällt.
Fatalerweise wird genau dieses unruhige Verhalten wiederum oft als mangelnde Auslastung interpretiert, und der Besitzer bemüht sich, dem Hund noch mehr Beschäftigung zukommen zu lassen.
Ein Teufelskreis, der nicht selten zu einer Änderung der chemischen Prozesse im Gehirn und damit zu einer Verhaltensstörung beim Hund führt. Dem jungen Herdengebrauchshund eine Entwicklung zu ermöglichen, die ihn zu einem ausgeglichenen Begleiter auch für die Familie werden lässt, ist also prinzipiell machbar, wenn man sich bewusst ist, welche grundlegenden Fähigkeiten ein solcher Hund erlernen sollte, BEVOR man in bewegungsintensive Sportarten einsteigt."
Ich würde mich freuen, wenn ihr eure Gedanken zu dem Thema hier mit allen teilt - natürlich ist der Text im Grunde auf die Hütehunde bezogen, aber ich persönlich glaube, dass er sich auch auf andere Gruppen ausweiten lässt. Es mag gut sein, dass ihr das alle selbstverständlich findet - aber ich habe doch schon genügend Hunde beobachtet, deren Besitzer sich dieser Problematik überhaupt nicht bewusst waren...